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Mehr Reichtum, mehr Armut

Soziale Ungleichheit in Europa vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Erschienen am 09.03.2017, Auflage: 1/2017
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506791
Sprache: Deutsch
Umfang: 211 S.
Format (T/L/B): 1.4 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Soziale Ungleichheit nimmt heute wieder zu. Im 20. Jahrhundert gab es aber auch Phasen, etwa die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg oder während des außergewöhnlichen "Wirtschaftswunders" der 1950er- bis 1970er-Jahre, in denen es zu einer Abmilderung sozialer Schärfen kam. Doch zur Dynamik und Geschichte der sozialen Ungleichheit haben sich Historiker bisher selten geäußert. Hartmut Kaelbles neues Buch wirft diesen längst überfälligen "Blick zurück". Es beschreibt die Entwicklungen der sozialen Ungleichheit dabei umfassend: Kaelble blickt auf die gesamte Zeitspanne von 1900 bis heute, auf Deutschland und Europa und auf die Verteilung der Vermögen und Einkommen. Er bezieht aber auch - anders als Wirtschaftswissenschaftler - Bildung, Wohnen, Gesundheit und individuelle Aufstiegsmöglichkeiten in seine Analyse ein. Zudem nimmt er die Wahrnehmung sozialer Ungleichheit und den Einfluss der Politik auf sie ins Visier. So wird deutlich: Die Zunahme sozialer Ungleichheit ist vermeidbar.

Autorenportrait

Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der HU Berlin. Er ist einer der führenden Vertreter der vergleichenden Sozialgeschichte ("Der historische Vergleich, 1999; "Sozialgeschichte Europas", 2007; "Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945 - 1989", 2011).

Leseprobe

Einleitung Die Verschärfung der sozialen Ungleichheit ist eine prägende Erfahrung der Gegenwart. Dieses Buch möchte die Augen dafür öffnen, dass es dagegen in der Geschichte viele Entwicklungen der Ungleichheit gab, neben Verschärfungen auch Abmilderungen der sozialen Ungleichheit. Es behandelt Europa im 20. Jahrhundert als ein Labor ganz unterschiedlicher Entwicklungen der sozialen Ungleichheit. Es wendet sich daher gegen das Dogma, dass in der Moderne gesellschaftlicher Fortschritt und wirtschaftlicher Wohlstand mit sozialer Ungleichheit bezahlt werden müssten.1 Es richtet sich auch gegen das Diktum, dass der moderne Kapitalismus unvermeidlich Ungleichheit erzeugt. Das Buch möchte dazu anspornen, genau hinzusehen. Es sei daran erinnert, dass unsere Vorstellungen über soziale Ungleichheit viel mit Geschichte zu tun haben. In unseren Köpfen streiten sich fünf verschiedene historische Vorstellungen vom historischen Wandel der sozialen Ungleichheit: Wir glauben erstens, dass die modernen Industriegesellschaften mit weniger sozialer Ungleichheit belastet waren als die Gesellschaften vor der Industrialisierung. Die sozialen Gegensätze zwischen den prunkvollen Höfen, den reichen adligen, im Luxus lebenden Großgrundbesitzern, den wohlhabenden städtischen Patriziern und den armen, oft leseunkundigen Bauern und Tagelöhnern des alten Europa waren erheblich größer als zwischen den heutigen Managern und Industriearbeitern. Auch heute noch ist in den armen, wenig industrialisierten Ländern Afrikas und Lateinamerikas wie Guinea-Bissau oder Kolumbien die soziale Ungleichheit der Einkommen weit schärfer als in unseren modernen westlichen Gesellschaften. Selbst noch in dem halb industrialisierten deutschen Kaiserreich war die Vermögens- und Einkommensungleichheit erheblich größer als im heutigen, voll industrialisierten Deutschland. Industrialisierung dämpfte nach dieser Vorstellung die soziale Ungleichheit. Eine zweite Vorstellung: Wir beobachten im atlantischen Raum eine völlige Umkehrung der internationalen Unterschiede der sozialen Ungleichheit. Noch vor hundert Jahren galten die Vereinigten Staaten nicht nur als das Land der sozialen Aufsteiger vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern auch als das Land der sozialen Gleichheit, der relativ geringen sozialen Unterschiede. Heute sehen wir genau umgekehrt die USA aus der europäischen Perspektive als das Land besonders scharfer sozialer Gegensätze an, unseren eigenen Kontinent dagegen als eine Weltregion begrenzter sozialer Unterschiede. Eine dritte Vorstellung: Blicken wir aus Europa nach Osten, dann stellen wir fest, dass ein Konkurrent Europas um die Abmilderung der sozialen Ungleichheit verschwunden ist. Noch vor 30 Jahren galt der riesige Raum von der ostdeutschen Mauer bis nach Shanghai, also das östliche Europa, die Sowjetunion und China, als eine Region mit erheblich weniger sozialer Ungleichheit als das kapitalistische Europa. Demokratie und marktwirtschaftlicher Wohlstand schien man im westlichen Europa und in den USA mit mehr sozialer Ungleichheit bezahlen zu müssen als im kommunistischen Teil der Welt. Das ist vorbei, denn sowohl das Putinsche Russland und als auch das kommunistische China sind nicht nur keine Demokratien, sondern auch mit weit mehr sozialer Ungleichheit belastet als Europa. Die Demokratien Ostmitteleuropas unterscheiden sich dagegen in ihrer sozialen Ungleichheit nicht mehr vom westlichen Europa. Anders als vor dem Fall der Mauer verbinden sich daher im heutigen Weltmaßstab Demokratie und Marktwirtschaft in Europa mit einer vergleichsweise milden sozialen Ungleichheit. Eine vierte Vorstellung steigert dies noch. Auch innerhalb Europas entwickelten sich die sozialen Ungleichheiten unterschiedlich. Als besonders beeindruckend gilt die Abmilderung der sozialen Ungleichheit in den skandinavischen Ländern. Sie waren noch in der Zwischenkriegszeit Länder mit moderaten Demokratien, aber mit hoher sozialer Ungleichheit der Einkommen im Vergleich jedenfalls mit Deutschland oder Österreich. Heute dagegen ist die Einkommensverteilung in den skandinavischen Ländern nicht nur erheblich weniger ungleich als in der Zwischenkriegszeit, sondern auch weniger ungleich als in den meisten anderen europäischen Ländern. Zusammen mit Japan weist dieser Teil Europas die geringsten Ungleichheiten der Einkommen weltweit auf. Die fünfte Vorstellung: Im Gegensatz dazu beobachten wir, dass die soziale Ungleichheit in der jüngsten Geschichte in Europa erheblich zunimmt. Vor allem die Managergehälter sprengen alles bisher Übliche und führen zu einer Ungleichheit, die noch vor wenigen Jahrzehnten nicht vorstellbar war. Die Gehälter in den Spitzenpositionen der Wirtschaft steigen und steigen. Gleichzeitig nimmt die Armut zu. Diese Entwicklung ist für viele überraschend. Das Ausbrechen der Managergehälter aus dem bisherigen Rahmen wird deshalb oft auch als Zeichen einer Amerikanisierung bezeichnet. In Deutschland verschärfte sich die soziale Ungleichheit sogar besonders spürbar. Noch vor einem halben Jahrhundert war das in Europa ganz anders. Die Einkommens- und Vermögensunterschiede milderten sich in Europa ein Vierteljahrhundert lang ab. Die sozialen Distinktionen gingen zurück. Reich und Arm schien dem gleichen Konsumideal der Autos, Kühlschränke, Staubsauger, Schallplatten und Fernsehapparate, der Telefone und Einbauschränke zu frönen. Nimmt man alle diese Vorstellungen zusammen, steht man vor einem tiefen Widerspruch: Einerseits erscheint die soziale Ungleichheit in Europa in einem immer milderen Licht nicht nur im Vergleich zu den vorindustriellen Gesellschaften der eigenen Geschichte und der globalen Gegenwart, sondern auch im Vergleich zu den USA und zu den neuen aufsteigenden Ökonomien China, Russland, Indien und Lateinamerika. Andererseits verschärft sich die soziale Ungleichheit in Europa spürbar. Um diesen Widerspruch aufzulösen und um zu wissen, welche dieser Tendenzen am Ende die gewichtigeren wurden, ist es notwendig, die Geschichte der sozialen Ungleichheit im 20. Jahrhundert im globalen Vergleich genauer zu betrachten. In jüngster Zeit wird uns von Experten der sozialen Ungleichheit eine sechste Vorstellung vorgetragen: Der moderne Kapitalismus verschärfte seinem Wesen nach in der Geschichte soziale Ungleichheit immer mehr. Die Reichsten häuften immer größere Vermögen in ihren Händen auf und verschafften sich damit auch immer mehr Macht. In der europäischen Geschichte wurde dieser kontinuierliche Prozess der Verschärfung der sozialen Ungleichheit bisher nur in einer Epoche unterbrochen: in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit zwischen 1914 und 1945. Die beiden Weltkriege und die Weltwirtschaftskrise haben viele Vermögen zerstört und in der Folge soziale Ungleichheit abgemildert. In dieser Vorstellung war die Abmilderung der sozialen Ungleichheit also ganz an Katastrophen von großen Kriegen und schweren Wirtschaftskrisen gebunden. Diese Vorstellung von der Geschichte der sozialen Ungleichheit ist bisher noch nicht stark verbreitet, nicht einmal unter Experten. Aber sie wurde von einem prominenten Autor, dem französischen Ökonomen Thomas Piketty, zur Diskussion gestellt und wird deshalb auch in diesem Buch diskutiert.2 In scharfem Gegensatz dazu interpretiert Branko Milanovi? in seinem soeben erschienenen Buch die Geschichte der sozialen Ungleichheit als eine Serie von Zyklen. Der vorletzte Zyklus begann im 19. Jahrhundert mit zunehmender Ungleichheit und schlug im kurzen 20. Jahrhundert in abnehmende Ungleichheit um. Der neueste Zyklus setzte nach dieser Vorstellung in den 1980er Jahren wieder mit verschärfter Ungleichheit ein, die dann wieder in eine Periode der sich abmildernden Ungleichheit übergehen sollte. Auch darauf wird eingegangen.3 Aufbau Jede der vier Epochen des 20. Jahrhunderts, die in diesem Buch behandelt werden, steht für eine andere Entwicklung der sozialen Ungleichheit. Die beiden Jahrzehnte vor 1914, mit denen sich das erste Kapitel befasst, st...